Kurzinfo
Die Elfe Annomé ist ein wenig anders als andere Elfen. Mit ihrer unbekümmerten Art verwickelt sie sich in allerlei Missgeschicke. Ihre Freunde im Anderswald lieben sie gerade deshalb, denn im Anderswald leben eine ganz Reihe Wesen, die anders sind: Die Hexe Carlotta, die auf ihrem Besen Speedy immer zu schnell unterwegs ist, der Elfenprinz Thilion mit seinem magischen Pferd Aragon, Trolle, Zwerge, Feen sprechende Bäume und die Einhörner Farina und Jasper. Doch im Anderswald gibt es auch Geheimnisse. Eines der größten ist das seltsame Amulett, das der Elf Meelan um den Hals trägt, seit er als Säugling unter einem Baum gefunden wurde. Was hat es damit auf sich? Ist es vielleicht ein Hinweis auf seine Herkunft?
Merkwürdigerweise finden die Freunde im Garten einer alten Villa ein Zeichen, das bei der Lösung des Rätsels um das Amulett eine entscheidende Rolle spielt. Um die Spur weiter zu verfolgen, müssen sie einen Zugang zur Welt der Menschen finden. Damit beginnt für alle ein großes und spannendes Abenteuer …
Leseprobe: Das geheimnisvolle Amulett
Kapitel 1
Annomé
»Autsch, so ein Unglück! Jetzt bin ich schon wieder an so einem blöden Stacheldraht hängen geblieben. Was tut der auch hier mitten in unserem Wald?« Die Elfe Annomé war mal wieder zu schnell unterwegs, hatte dabei die Drahtrolle übersehen und sich darin verheddert.
»Was fällt den Menschen bloß ein, hier ihren Müll abzuladen!« Ihre blauen Augen verdunkelten sich. Das geschah immer wenn sie wütend war. Ihr dunkles Haar, das ihr bis zum Kinn reichte, sah ein wenig strubbelig aus. Sie trug ein moosgrünes Kleid, das bis zur Taille eng verlief und dann in einen weiten, zipfeligen Rock überging.
Die uralte Eiche Arta wiegte ihre Krone hin und her. Ein leises Rauschen war zu hören. Sie sprach: »Wo warst du nur wieder mit deinen Gedanken?«
Annomé schaute für einen Moment nachdenklich zum Himmel. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Habe ich vergessen Arta. Hilf mir lieber, ich habe es eilig.«
»Du weißt, dass ich dir nicht helfen kann. Frag Carlotta. Die kann dich ratz-fatz befreien.«
»Nee, kann sie nicht. Die ist auf einem Hexenkongress in Schottland.«
»Ich hätte da ein paar Ratschläge für dich, wie du dieses Missgeschick in Zukunft vermeiden kannst.«
Annomé verdrehte die Augen. »Die kenne ich doch längst, Arta. Flieg nicht so schnell, sei aufmerksam, nimm dir mehr Zeit, sei geduldig.« Sie seufzte. »Ach Arta, du hast ja Recht. Ich nehme es mir immer wieder vor, deine Ratschläge zu befolgen, aber es klappt einfach nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Hm, es ist eben wie es ist.«
Bei dem Versuch, sich zu befreien, verhedderte sich Annomé nur noch mehr in der Drahtrolle. Verzweifelt gab sie auf. Sie betrachtete ihr Kleid und ihr kamen die Tränen. »Schau, Arta, überall sind Löcher und Risse.«
»Das sieht wirklich übel aus Annomé. Aber ich habe eine gute Nachricht. In der Ferne sehe ich Hilfe für dich.«
»Wer? Sag schon!«
Arta war der älteste, größte und mächtigste Eichenbaum in diesem Waldgebiet. Ihr entging nichts, denn sie konnte kilometerweit in alle Richtungen sehen und hören. Sie sprach: »Thilion ist mit Aragon nicht weit von hier unterwegs. Möchtest du, dass ich ihn rufe?«
»Bloß nicht!«, rief Annomé. »Wie steh ich denn da in meinem durchlöcherten Kleid.« So sollte Thilion sie nicht sehen. Er war ein Elfenprinz und sie fand, er sah hinreißend aus. Oft hatte sie ihn heimlich beobachtet, wenn er mit seinem Pferd Aragon im wilden Galopp durch den Anderswald preschte.
Die alte Eiche seufzte. »Dann eben nicht.«
Annomé atmete erleichtert auf. Gerne wäre sie Thilion begegnet, nur nicht in diesem Zustand. »Oh, Arta, ich bin mit Meelan verabredet. Jetzt komme ich wieder mal zu spät, wie immer.«
»Verständige ihn durch deine Gedanken.«
»Ach, Arta, das war noch nie meine Stärke. Dazu müsste ich mich voll auf Meelan konzentrieren. Und du weißt, wie schwer mir das fällt.« Bei dem Wort »konzentrieren« schnitt Annomé eine lustige Grimasse.
Arta lachte, dass ihre Äste nur so wackelten.
Ein Wanderer kam des Weges und blieb stehen. Er schaute stirnrunzelnd auf den Eichenbaum. Kein Lüftchen regte sich, nicht mal ein einziges Blatt bewegte sich an den anderen Bäumen. Nur die Zweige der alten Eiche schwangen heftig auf und nieder. Ein lautes Rauschen war zu hören. Der Mann schüttelte den Kopf und ging weiter.
Annomé schaute dem Wanderer grinsend hinterher. »Dem hast du was zum Nachdenken mit auf den Weg gegeben. Ich könnte ihm hinterherfliegen und ein paar Streiche spielen. Dann wird er diese Wanderung ewig in Erinnerung behalten.«
»Kannst du nicht.«
»Oh je, mein Problem, das hatte ich total vergessen. Was soll ich bloß tun, Arta?«
»Nichts. Denn Hilfe ist unterwegs und sie kommt mit Superhochgeschwindigkeit.«
Ein sausendes und donnerndes Geräusch war in der Ferne zu hören, das sich rasch näherte. Mit Schallgeschwindigkeit flog etwas über die Wipfel der Bäume hinweg.
»He, Carlotta!«, schrie Annomé.
Die Hexe hatte gerade Arta überflogen. Ein quietschendes Geräusch war zu hören. Carlottas Besen bäumte sich unter der Vollbremsung auf und stand senkrecht in der Luft. »Habe ich da die Stimme meiner Freundin Annomé vernommen?«
»Ja, ich bin hier unten, bei Arta. Bitte, hilf mir, ich hänge fest!«
Carlotta machte eine Kehrtwende und flog mit Carlottageschwindigkeit, so schnell es die Äste zuließen, zu Annomé. Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie diese total verwurschtelt mit der Drahtrolle sah.
»Lach nicht, hilf mir lieber!«, rief Annomé.
»Das wievielte Mal hängst du im Stacheldraht? Lass mich raten, viermal, nee, ist es mit heute nicht schon das fünfte Mal in diesem Jahr? Na ja, manche lernen es eben nie.«
Annomé blies empört ihre Elfenbäckchen auf. »Das sagt die Richtige. Soll ich mal deine Abstürze wegen riskanter Flugmanöver aufzählen?«
Carlotta winkte ab. »Lieber nicht, sonst stehen wir morgen früh noch hier.«
Annomés Freundin war eine hübsche Hexe mit feuerrotem Haar. Auf ihrer zierlichen Stupsnase und ihren Wangen tummelten sich unzählige Sommersprossen. Ihre Hexenschuhe waren mit kleinen bunten Knöpfen verziert. Natürlich waren es nicht irgendwelche Knöpfe, sondern Carlottazauberknöpfe. Sie hatten alle ein Gesicht und schnitten ulkige Grimassen.
Ihre riskanten Flugmanöver waren überall bekannt. Sie liebte es, schnell zu fliegen. Keiner nahm es ihr übel, wenn dabei mal das eine oder andere zu Bruch ging. An ihrem Hexenhaus hing eine Liste, in die jeder Geschädigte sich eintragen konnte. Carlotta arbeitete regelmäßig ihre Flugschäden ab und brachte mit ihrem Zauberstab Puck alles wieder in Ordnung. Oft waren die Gegenstände hinterher schöner als vorher.
Jetzt nahm sie ihren Zauberrucksack Wumpi von den Schultern und kramte darin herum. Diesen speziellen Rucksack, aus Moos gewebt, hatte sie durch große Zauberkunst erschaffen. Er hatte ein richtiges Gesicht mit einer kleinen Knollennase und konnte sprechen und singen. Mit seinen langen, dünnen Armen und Beinen hielt er sich auf Carlottas Rücken fest. Er lispelte ein wenig, aber das störte Carlotta nicht. Bei seiner Erschaffung war ihr da wohl ein winziger Fehler unterlaufen.
Dieser Rucksack war voller Magie. Carlotta brauchte nur zu sagen, was sie sich wünschte, dann holte sie es aus ihm heraus. Erst waren die Dinge klein, doch sobald sie die Erde berührten, nahmen sie die gewünschte Größe an. Der Zauber war so gestaltet, dass Wumpi nur auf ihre Stimme hörte.
Nun murmelte Carlotta in den Rucksack und schwupp, kam ihr Zauberstab Puck heraus. Sie richtete ihn auf Annomé und sprach eine Zauberformel. Wie von Geisterhand löste sich der Draht in Nichts auf.
»Vielen Dank für deine Hilfe.« Annomé strahlte ihre Befreierin glücklich an. Doch im nächsten Moment sausten ihre Mundwinkel nach unten. Tränen traten in ihre Augen. »Schau, mein Elfenkleid, voller Löcher.«
Carlotta legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich kriege das wieder hin.« Sie murmelte einen Zauberspruch. Nur kurz wurde Annomé von einem grünen Lichtwirbel umhüllt. Anschließend war ihr Elfenkleid wie neu. Es glänzte sogar mehr als vorher.
»Danke, Carlotta, du bist so zauberhaft.«
»Dafür sind Freunde doch da.«
»Sag mal, Carlotta, ich dachte, du bist auf einem Hexenkongress in Schottland?«
»Hatte mich glatt vertan. Der ist erst beim nächsten Vollmond.«
Annomé seufzte. »Da hatte ich aber Glück im Unglück. So, jetzt muss ich mich beeilen. Bin mit Meelan verabredet. Der wartet schon seit einer kleinen Ewigkeit auf mich.«
»Ich fliege dich hin, wenn du magst. Das ginge ein bisschen schneller als mit deinen zarten Elfenflügelchen.«
Annomé zögerte, denn mit ihrer Freundin zu fliegen war schon ein Abenteuer. Sie war immer heilfroh, wenn sie nach so einem Flug wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Hm. Na gut, dann wäre meine Verspätung nicht gar so groß.« Dieses Angebot nahm sie nur aus der Not heraus an.
Die beiden verabschiedeten sich von der alten Eiche. Dann legte Carlotta einen Blitzstart hin, dass jede Menge Blätter aufgewirbelt wurden.
Arta hustete. »Nee, nee, diese Carlotta …«